leitlinienwatch.de als unabhängiges Bewertungsportal

Leitlinien liefern in der Regel Entscheidungshilfen für eine Vielzahl verwandter klinischer Situationen und Patientensubgruppen. In der Leitlinienentwicklung kommt Wissen zu verschiedenen Versorgungsproblemen aus unterschiedlichen Quellen zusammen, zudem werden auch gegensätzliche Standpunkte und besondere situative Erfordernisse in der Diskussion berücksichtigt. Ziel ist die Erhöhung der Transparenz bei medizinischen Entscheidungen [1].

 

Entstehungsmethodik

Im Bereich der deutschsprachigen Leitlinien hat sich eine Klassifikation für Leitlinien etabliert, die auf den Grundlagen eines internationalen Statements (Appraisal of Guidelines for Research and Evaluation, AGREE, derzeit aktuelle Version AGREE II [2, 3]) beruhen. Die deutsche Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die sämtliche deutschen Leitlinien verwaltet (ein wesentlicher Teil dieser ist in Kooperation mit österreichischen und schweizerischen Fachgesellschaften entstanden und somit auch in diesen Ländern gültig), klassifiziert nach folgenden Entwicklungsstufen [1, 4]:

  • Entwicklungsstufe S1 (Handlungsempfehlungen von Expertengruppen):
    Die Konsensfindung findet in einem informellen Verfahren statt.
  • Entwicklungsstufe S2k (konsensbasierte Leitlinie):
    Wesentliche Elemente sind ein repräsentatives Gremium und eine strukturierte Konsensfindung.
  • Entwicklungsstufe S2e (evidenzbasierte Leitlinie):
    Hier stehen die systematische Recherche, Auswahl und Bewertung der Literatur im Mittelpunkt.
  • Entwicklungsstufe S3 (evidenz- und konsensbasierte Leitlinie):
    Sämtliche Elemente der strukturierten Leitlinienentstehung sind gegeben, das heißt repräsentatives Gremium, systematische Recherche, Auswahl und Bewertung der Literatur sowie strukturierte Konsensfindung.

Die Systematik nimmt mit der Entwicklungsstufe zu, als evidenzbasiert sind hingegen nur die Entwicklungsstufen S2e und S3 anzusehen. Relativ neu sind sogenannte lebende Leitlinien, also solche, die mit höherer Frequenz aktualisiert werden (Aktualisierungsintervall < 12 Monate), sonst sind Angaben zur Gültigkeitsdauer und zur Aktualisierungsfrequenz üblich [5].


Transparenzbewertung

Inwiefern die Standards bezüglich der unvoreingenommenen Konsensbildung und anderer Transparenzkriterien eingehalten werden, ist Gegenstand der Transparenzbewertung. Im deutschsprachigen Raum hat sich dafür das Transparenzportal leitlinienwatch.de etabliert. Das Portal wird getragen von MEzis (Mein Essen zahlʼ ich selbst), einer Initiative von Ärztinnen und Ärzten zur Sensibilisierung der Ärzteschaft für den Einfluss von Marktinteressen in Bezug auf Behandlungsentscheidungen, NeurologyFirst, einem Zusammenschluss von Ärztinnen und Ärzten für ärztliche Unabhängigkeit auf dem Gebiet der Neurologie sowie dem deutschen Ableger von Transparency International, dem weltweit agierenden Netzwerk zur effektiven und nachhaltigen Bekämpfung und Eindämmung der Korruption. Das ausgegebene Ziel ist die Bewertung von Leitlinien, um die Erwartungen der Ärzteschaft und der Gesellschaft an die unabhängige Erstellung von Leitlinien auszudrücken [6].

Logo_Mezis.png Logo_Neurology_First.png Logo_Transparency_International.png



Die unabhängige Bewertung erfolgt anhand von fünf Kriterien (Transparenz, Zusammensetzung der Leitliniengruppe, Unabhängigkeit der federführenden Personen, Enthaltung bei Abstimmungen, Externe Beratung der Leitlinie, siehe Tabellen 1 - 6), die jeweils mit 0–3 Punkten bewertet werden, sowie bis zu 3 Bonuspunkten für besondere Leitlinienmerkmale, sodass maximal 18 Punkte erreicht werden können. Aus der Summe an erreichten Punkten ergibt sich die Einschätzung anhand eines Ampelschemas [7]:

  • 0–5 Punkte: Reformbedarf! Unzureichende Regulierung von Interessenkonflikten (rot)
  • 6–10 Punkte: Achtung! Gute Ansätze, aber nur partielle Regulierung von Interessenkonflikten (gelb)
  • 11–18 Punkte: Gut! Unabhängige Leitlinie mit ordentlich regulierten Interessenkonflikten (grün)
Transparenz (zu finanziellen Interessenskonflikten)
0 Punktekeine Angaben zu Interessenkonflikten
1 PunktInteressenkonflikte werden in den Leitliniendokumenten für jede Autorin und jeden Autoren pauschal angegeben (ja/nein)
2 PunkteInteressenkonflikte werden detailliert dokumentiert (mit Angabe der Firmen)
3 PunkteInteressenkonflikte werden durch die Koordinatorinnen und Koordinatoren oder ein separates Gremium bewertet
Zusammensetzung der Leitliniengruppe
0 Punkte> 50% mit finanziellen Interessenkonflikten oder keine Angaben
1 Punkt25% bis 50% mit Interessenkonflikten
2 Punkte< 25% mit Interessenkonflikten
3 Punktealle Leitlinienautorinnen und Leitlinienautoren ohne Interessenkonflikte
Unabhängigkeit der federführenden Personen
0 Punkte> 50% mit finanziellen Interessenkonflikten oder keine Angaben
1 Punkt25% bis 50% mit Interessenkonflikten
2 Punkte< 25% mit Interessenkonflikten
3 Punktealle federführenden Autorinnen und Autoren, Koordinatorinnen und Koordinatoren bzw. Vorsitzenden ohne Interessenkonflikte
Enthaltung bei Abstimmungen
0 Punktekeine Angabe oder keine erkennbaren Enthaltungen bei Interessenkonflikten
1 Punktes gibt eine Regel zur Enthaltung, Abstimmungsergebnisse sind jedoch nicht dokumentiert
2 Punktepartielle Enthaltungen
3 Punktevollständig dokumentierte Enthaltungen der Mitglieder mit Interessenkonflikten
Externe Beratung der Leitlinie
0 Punktekeine externe Beratung
1 Punktwird nicht vergeben
2 PunkteBeratung des Leitlinienentwurfs durch Fachöffentlichkeit oder Patientinnen und Patienten über eine Website
3 PunkteBeratung des Leitlinienentwurfs durch Fachöffentlichkeit oder Patientinnen und Patienten und dokumentierter Umgang mit den eingegangenen Vorschlägen
Bonuspunkte (max. 3)
dokumentierte Anstrengungen zur Rekrutierung unabhängiger Autorinnen und Autoren
transparentes Bewertungssystem für die Relevanz von Interessenkonflikten
Nicht-Beteiligung von Autorinnen und Autoren mit schwerwiegenden Interessenkonflikten nach Sichtung der Interessenkonflikterklärungen
offene Diskussion der Interessenkonflikte in der Leitliniengruppe zu Beginn der Zusammenarbeit mit Erörterung der Konsequenzen, z.B. Enthaltungen
plurale Zusammensetzung der Leitliniengruppe mit Beteiligung von Methodikerinnen und Methodikern und Patientenvertreterinnen und Patientenvertretern
Aufbereitung der Studienevidenz durch Methodikerinnen und Methodiker
unabhängiger interner Reviewprozess, der über Konsentierung durch die Fachgesellschaften hinausgeht
starker Konsens bei den Empfehlungen

Tabellen 1 - 6: Bewertungskriterien von leitlinienwatch.de [7].


Was bedeutet ein Mangel an Transparenz bei der Leitlinienerstellung?

Die Idee von Leitlinien liegt in der Bereitstellung von Informationen, die unabhängig und auf Basis von objektiven Kriterien erstellt wurden und den aktuellen Stand der Medizin abbilden. Kommen Interessenkonflikte ins Spiel, ist die Objektivität möglicherweise nicht mehr gewährleistet und die Gefahr, dass auch wirtschaftliche Interessen bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen, steigt. Interessenkonflikte sind häufig nicht vermeidbar, weil beispielsweise auch die Durchführung von Arzneimittelstudien mit finanziellen Interessenkonflikten bezüglich der entsprechenden Arzneimittelhersteller einhergeht. Wichtig ist der transparente Umgang mit Interessenkonflikten und die Art und Weise, wie diese im Entstehungsprozess der Leitlinie berücksichtigt werden, z.B. durch Enthaltungen bei Abstimmungen zu Fragestellungen, in denen diese Interessenkonflikte eine Rolle spielen. leitlinienwatch.de formuliert es so: „Wer für einen Hersteller arbeitet, kann nicht dessen Produkte in einer Leitlinie bewerten.“ [6]

Ein aktuelles Beispiel bildet die S3-Leitlinie Prävention und Therapie der Adipositas der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG), die in der aktuellen Version von Oktober 2024 in der Version 5.0 vorliegt [8]. Die Bewertung durch leitlinienwatch.de ergab mit 9 Punkten („Achtung!“) zwar eine Verbesserung zur Vorgängerversion, allerdings wurde in der Bewertung scharfe Kritik an der Zusammensetzung der Leitliniengruppe und vor allem am Abstimmungsverhalten geäußert, da ein großer Anteil der involvierten Autorinnen und Autoren einschlägige Interessenkonflikte angegeben hatten – z.B. mindestens neun mit Interessenkonflikten zu Herstellern von „Abnehmspritzen“ – in der Abstimmung zu medikamentösen Therapien aber die Anzahl an Enthaltungen konsequent unter dieser Zahl blieb. Vor dem Hintergrund fehlender Langzeit- und Sicherheitsdaten zu diesen Therapien ist die enthaltene Empfehlung zum Dauereinsatz dieser Mittel (zum Gewichtserhalt), der zu erheblichen Belastungen der Versichertengemeinschaft (und entsprechenden Gewinnen auf Herstellerseite) führen kann, kritisch zu sehen [9].

Viel Licht, aber auch Schatten bei untersuchten Studien

Mit Stand Februar 2025 wurden durch leitlinienwatch.de 144 Studien bewertet, vornehmlich mit deutschen Fachgesellschaften in federführender Position (AWMF-Leitlinien, n = 131), aber auch einige internationale Fachgesellschaften sind vertreten (n = 13), z.B. die European Society of Cardiology (ESC) oder die European Association of Urology (EAU). Die AWMF-Leitlinien schneiden in knapp einem Drittel der Fälle mit „Gut“ ab – die bestbewerteten Leitlinien kommen auf 17 Punkte. Hingegen ist bei rund der Hälfte Vorsicht geboten und rund 20 % werden als reformbedürftig charakterisiert (Median 9 Punkte). Anders sieht dies bei den europäischen Leitlinien aus, denn bis auf eine Leitlinie werden alle Studien als reformbedürftig eingestuft, der Median liegt bei 3 Punkten. Aufgrund dieser Daten scheinen internationale Leitlinien anfälliger für intransparente Vorgänge zu sein.

Die Transparenzbewertung ist nur eines von mehreren Qualitätskriterien zur Leitlinienbewertung. Mit einer umfassenden Bewertung der methodischen Qualität beschäftigt sich zudem das Deutsche-Leitlinien-Bewertungs-Instrument (DELBI) [6].

Fazit

  • Leitlinien stellen eine wichtige Entscheidungshilfe für Therapieentscheidungen dar.
  • Leitlinien dürfen aber auch nicht unkritisch gesehen werden, da auch hier Einflussnahme in der Empfehlungsentstehung möglich ist, die nicht nur evidenzbasierten Grundlagen folgt (Interessenkonflikte).
  • Die unabhängige Bewertung von Leitlinien, z.B. durch die Initiative leitlinienwatch.de oder DELBI, kann helfen, die Awareness für die Anwenderinnen und Anwender zur Erstellung von Leitlinien zu schärfen.

Literatur

[1] Cochrane Deutschland. Leitlinien, 2025. Abrufbar unter: www.cochrane.de/leitlinien.

[2] Brouwers MC, Kho ME, Browman GP et al. AGREE II: advancing guideline development, reporting and evaluation in health care. CMAJ 2010;182(18):E839-42.

[3] The AGREE Next Steps Consortium. AGREE II (2014). Abrufbar unter: www.awmf.org/fileadmin/user_upload/dateien/leitlinien/AGREE_II_German-Version.pdf.

[4] Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften. AWMF-Regeln für das Leitlinien-Register, 2025. Abrufbar unter: www.awmf.org/regelwerk/regeln-fuer-das-ll-register.

[5] Institut für Evidenz in der Medizin, Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin und Robert-Koch-Institut (RKI), Institut für medizinisches Wissensmanagement der AWMFInstitut für medizinisches Wissensmanagement der AWMF. Leitfaden für lebende Leitlinien- und Impfempfehlungen (2024). Abrufbar unter: www.cochrane.de/sites/cochrane.de/files/uploads/leitfaden_lebende_leitlinien_und_impfempfehlungen_04042024.pdf.

[6] leitlinienwatch.de. Das Transparenzportal für medizinische Leitlinien. Abrufbar unter: www.leitlinienwatch.de.

[7] leitlinienwatch.de. Bewertungskriterien. Abrufbar unter: www.leitlinienwatch.de/bewertungskriterien.

[8] Deutsche Adipositas-Gesellschaft. S3-Leitlinie Prävention und Therapie der Adipositas (2024). Abrufbar unter: register.awmf.org/assets/guidelines/050-001l_S3_Praevention-Therapie-Adipositas_2024-10.pdf.

[9] leitlinienwatch.de. Bewertung der Leitlinie Prävention und Therapie der Adipositas, 2024. Abrufbar unter: www.leitlinienwatch.de/praevention-und-therapie-der-adipositas-2/.